Norbert Schmidt Mispagel

Lebenslauf Malerei
Norbert Schmidt-Mispagel

1950
geboren in Cloppenburg / Niedersachsen

1968
Heranführung an intensive Auseinandersetzung mit Malerei / Zeichnung durch den Künstler und Kunstlehrer W. Körtzinger

Ab 1970
Jährlich mehrere Aufenthalte in Frankreich, auf der Suche nach Sujets zum Malen und Zeichnen. Autodidaktische Studien der Mal- und Zeichenpraxis.

1971-75
Studium an der Universität Göttingen (Romanistik / Sport)

1973
Erste Siebdrucke

Seit 1978
Lehrer (Kunst / Französisch / Sport) an der Georg Christoph Lichtenberg Gesamtschule in Göttingen

1980
Erste Pastell- und Acrylbilder zum Thema “MURS DE FRANCE“

1990
Beginn des Zyklus’ “MURS PUBLICITAIRES – MURS EGNIMATIQUES“ (Werbewände – Rätselwände)

1995
Abstraktionen und abstrakte Malerei

2000
Beginn des Zyklus’ “Schichtenbilder“

1972 – 2006
Zahlreiche Einzel -und Gruppenausstellungen in Deutschland und Frankreich, u. a. in Hamburg, Münster, Hof, Jever, Bad Hersfeld, Roussillon/Provence, Goslar, Göttingen, Westerstede.

Ausstellung GeSchichten – Einführungsrede Georg Hoppenstedt

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Die Faszination, die von den bunten alten Reklamebildern ausgeht, die Norbert Schmidt–Mispagel bei seinen häufigen Reisen nach Frankreich in vielen Ortschaften auf Häuserwänden entdecken konnte, ist offenbar das Schlüsselerlebnis für seine eigene bildnerische Gestaltung. Wie Botschaften aus einer vergangenen Zeit, sind diese Wandbilder selbst sichtbar den Einflüssen der Zeit ausgeliefert. Den Witterungseinflüssen ausgesetzt, von baulichen Veränderungen beeinflusst oder durch Übermalungen in ihrer Gestalt verändert, begannen sie im Laufe der Zeit ein Eigenleben zu führen auch in ihrer Wirkungskraft auf Norbert Schmidt–Mispagel. Durch die Kunstrichtung des Informel, die in den 50iger und 6Oiger Jahren entstanden war, eine abstrakte Malweise, die nicht den klaren konstruktiven Formen zugewandt war wie die klassische Moderne, sondern der es besonders um die Struktur der Flächen und die Art des Farbauftrags ging, war die ästhetische Sichtweise auf die Dinge extrem verändert worden. Der künstlerische Fotograf nahm beispielsweise nicht mehr den ganzen Baum auf, sondern ging ins Detail, machte möglicherweise eine Makro–Aufnahme von der Rinde, von den vitalen rhythmischen Strukturbewegungen, die sich da abzeichneten und ließ so das Detail für das Ganze sprechen, ließ mit dem Ausschnitt aus der endlosen Variationsfülle der Rindenstruktur, die unerschöpfliche schöpferische Kraft der Natur zum Ausdruck kommen. Dieser besondere Blick auf die Struktur der Dinge prägte die Ästhetik in dieser Zeit.

Als ich 1966 zum Studium nach Berlin ging, waren es besonders die verwitternden Wände, die Strukturen die durch den abbröckelnden Putz oder die verwitterten Farben in Erscheinung traten, die mich faszinierten. Damals war gerade das Buch „Die gemordete Stadt“ von Wolf Jobst Siedler erschienen, einem ästhetischen Querdenker dieser Zeit, der es wagte, gegenüber der geometrisch–technischen, nüchternen modernen Architektur, die als Ausweis fortschrittlicher Gesinnung in der öffentlichen Baupolitik dominant geworden war, die Zerstörung und den Verlust von Stuck und der Formenvielfalt der Gründerzeitarchitektur zu beklagen, die gegenüber der formstrengen Moderne organisch lebendig wirkte, auch oder gerade durch ihren Verfall.

 

Verwitterte Firmenaufschriften über Torbögen oder Reklamebilder aus der Jahrhundertwende auf hohen Mauerwänden über Dächer hinweg sichtbar in malerischen Verwitterungszuständen, teilweise übermalt oder durch andere Baumaßnahmen verändert, das waren für mich damals faszinierende optische Momente in einer ansonsten überaus grauen städtischen Steinwüste. Gerade im Verfall, in der Zerstörung der kommerziellen Werbebotschaft konnte man ein versöhnlich stimmendes Symbol für die letztendliche Rückkehr zum Organischen sehen. Als besonders eindrucksvoll erinnere ich mich an einen Werbeschriftzug mit großen Lettern diagonal über eine Brandmauer gemalt, dorthinein, mitten zwischen die Buchstaben, war in späterer Zeit ein Fenster eingesetzt worden, in dem nun eine Glühbirne durch die Gardine schimmerte.

Die Verwitterungszustände alter Wände sind ein Faszinosum, das für viele Künstler dieser Zeit zur Initialzündung geworden ist. Ob es der informelle Künstler Gerhard Hoehme ist, der in den 6Oiger Jahren Bilder mit übereinander gelegten Worten und Schriftzügen malt, die an vollgekritzelte Wände in öffentlichen Toiletten erinnern oder an Orte touristischer Pilgerfahrten, an denen die Besucher ihr „ich war hier“ mit ihren Initialen einritzen mussten. Oder der französische Künstler Dubuffet, der in dick aufgetragene Farbschichten Zeichnungen wie von Kinderhand einkratzt, die das Erlebnis elementaren Ausdruckswillens wiedergeben. Oder der spanische Künstler Tàpies, der monumentale schwergewichtige Reliefbilder schafft, die in Material und Oberfläche verwitternden Wänden gleichen und eine sinnliche, unmittelbar erlebbare Bildstruktur erzeugen, in die geheimnisvolle beziehungsreiche Zeichen oder Schriftzüge gesetzt sind, die einen ursprünglichen medialen Charakter von Wandflächen beschwören. Immer wieder ist die Realitätsebene der Wand, auf der sich Bilder und Botschaften finden, auf unterschiedlichste Weise zur Kunstidee für Künstler der Gegenwart geworden.
Für Norbert Schmidt–Mispagel ist das Erlebnis der vital–bunten Reklame– Malereien auf den ohnehin schon recht farbigen Wänden französischer Ortschaften zur ersten großen Inspirationsquelle geworden. Zum einen bot der Auflösungsprozess dem diese Bilder durch die Verwitterung unterlagen, die Möglichkeit, mit den experimentellen Methoden der informellen Malerei vergleichbare malerische Wirkungen zu erzeugen, zum anderen reizte ihn offenbar die symbolhafte Bildsprache dieser alten Reklamebilder in spielerischer Weise zu bezüglichen Anspielungen und Ausdeutungen in seinen Bildern. Ein Vergnügen bei dem sowohl der Kunsterzieher als auch der Französischlehrer ihrem Affen Zucker geben konnten. Es ist schon fast zwanzig Jahre her, dass ich durch Zufall einiger dieser Bilder ansichtig wurde, denn Norbert Schmidt–Mispagel hatte es nicht darauf angelegt, sich als Künstler in Erscheinung zu setzen. Ich war überrascht über die malerische Qualität eines Göttinger Kunstschaffenden, von dem man bisher nichts gehört hatte. Ganz in der Stille hat er inzwischen seine Motivik und seine Bildsprache über die Jahre in konsequenter Weise weiter entwickelt.

Ich könnte hier gut die Wände in unseren Städten zum Vergleich heranziehen.
Waren sie vor zwanzig oder dreißig Jahren noch recht vereinzelt mit Sprüchen oder Plakaten verziert und weitgehend in unauffälligen dezenten Tönen gehalten, so hat sich da inzwischen einiges getan. Sie sind nun zum Betätigungsfeld vieler Zeitgenossen geworden, die die Öffentlichkeit auf sich aufmerksam machen wollen, ob es die wilden Plakatkleber sind, die Schicht über Schicht kleben, ob es die Parolen absetzenden Wirrköpfe aller Art sind oder ob es die Geltungssucht jugendlicher Mitmenschen ist, die auf jede freie Wand oder Mauerstelle ihre Tags, ihre Duftnoten in Form von uniformen Individualität heischenden Schriftzeichen setzen müssen.

So hat sich bei Norbert Schmidt–Mispagel eine Bildkonstellation entwickelt, die wie so eine öffentliche Wandfläche, Spiegelbild verschiedenster menschlicher Mitteilungen und Erscheinungsweisen wird. Man könnte diese Bilder auch als eine Art Wandzeitung ansehen. Wie sich auf so einer Wand Mitteilung über Mitteilung in Schichten neben und übereinander legt, und dabei auch manchmal tiefere Schichten wieder zum Vorschein kommen, spinnt der Künstler in feiner Regie Geschichten und Bezüglichkeiten ZU einem Bildgefüge, dabei lässt er es sich nicht nehmen, insgeheim seine Gedanken und Kommentare ZU unserer Zeit ins Spiel zu bringen. Das Ganze entwickelt sich erst einmal zu einem Such– und Entdeckungsspiel für den Betrachter. Lassen wir uns mal auf das Bild mit dem grünen Hintergrund – oder besser, auf die grüne Wandfläche – ein: Wir sehen einige Kopfsilhouetten in der Art der früher beliebten Scherenschnitte, wie sie als einfache und preiswerte Form des Porträts seit dem 18. Jahrhundert in bürgerlichen Schichten üblich waren und unter Studenten auch als Stammbuchblätter häufig verschenkt wurden. Einige Köpfe tragen die signifikanten Kappen der Burschenschaftler und in Verbindung mit den Wandkritzeleien wird sofort der berühmte Karzer der Göttinger Universität als Bezugsort festgemacht. Bekanntlich haben sich hier etliche der vorübergehend festgesetzten Übeltäter, die sich meistens durch Störung der öffentlichen Ordnung in diese missliche Lage gebracht hatten, auf diesen Wänden verewigt, z.T. mit Selbstporträts, z.T. mit ihren Initialen oder Sprüchen, die sie in den Putz gekratzt haben. Wir sehen auf dem Bild eine simulierte Wand bei der die grüne Farbe tatsächlich über ein früheres Bild einer Reklamefläche gestrichen worden ist und an den Stellen, an denen Schrift in die Wandfläche eingeritzt erscheint, treten erkennbar Farbspuren der früheren Malschicht zutage, daneben ist eine mit Kreide gekritzelte frühkindliche Darstellung eines Menschen zu erkennen. Sie erscheint wie ein Beweisstück für den hier in die Farbe gekratzten berühmten umstrittenen und doch viel zitierten Satz von Joseph Beuys: „Jeder ist ein Künstler“ – Kinder allerdings sind allemal und unbestritten wahre Künstler, das hat uns schon Picasso deutlich gemacht mit seinem Ausspruch: „man muss wieder Kind werden, um gute Kunst machen zu können“ , aber möglicherweise könnte auch den kindsköpfigen akademischen Wandbeschmierern mit diesem Satz von Beuys die Würdigung als Künstler zuerkannt worden sein. Oder ist das als kritische Ironie gemeint? Selbstironisch jedenfalls hat Norbert Schmidt–Mispagel hier die Worte: „ich auch“ eingekratzt und noch ein großes Selbstporträt in Form einer Silhouette im rechten oberen Bildfeld platziert –– oder soll das „ich auch“ sich auf den Aufenthalt im Karzer beziehen? Bekennt sich der Künstler hier zu den als rechtskonservativ verschrienen Burschenschaftlern? Aber eigentlich scheint der Burschenschaftler mit der Kappe und dem erhobenen Arm auch nicht mehr das zu sein, was das alte Feindbild anheim stellt, zieht man die Armbinde mit dem Peace–Zeichen in Betracht – andererseits waren Burschenschaftler auch mal fortschrittlich, als sie die bürgerliche Revolution von 1848 anführten und die Fahne mit den Farben Schwarz–Rot–Gold trugen, die heute unsere Republik repräsentiert. Wenn hier in diesem Bild nichts mehr so zu sein scheint, wie wir gewohnt sind, es an zusehen, frage ich mich langsam auch, ob die Farbe der Wand nicht auch noch eine aktuelle Bedeutung erfährt. Sollte hier die in den Wahlen und Meinungsumfragen steigende Akzeptanz der Grünen kommentiert sein, die mal von konservativen Gesellschaftsgruppen als Revolutionäre bekämpft und ausgegrenzt wurden? Oder bin ich nun doch mit meiner Deutung etwas über das Ziel hinausgeschossen?

Ob sich der Künstler genau das alles gedacht hat, muss ich aber gar nicht unbedingt wissen. Man sieht jedenfalls, dass sich viele nachdenkenswerte Geschichten spinnen lassen in diesen Bildern, dass sie den entdeckerischen Scharfsinn herausfordern und die kreative, phantasievolle Betrachtungsweise fördern, indem sie uns anregen, Geschichten aus den Schichten zu extrahieren und dabei aus den Konfrontationen und Irritationen neue Möglichkeiten und Erkenntnisse zu gewinnen, getreu dem Motto unseres Hausheiligen Georg Christoph Lichtenberg: „Man muss etwas Neues wagen, um etwas Neues zu sehen“.

Den meisten hier Anwesenden muss ich nicht verraten, dass Norbert Schmidt–Mispagel bis vor kurzem an der Schule gearbeitet hat, die den Namen Lichtenbergs trägt. Das scheint mir nicht ganz ohne Bedeutung ZU sein. Es ist aber nicht nur das Spiel der Bildzitate und Geschichten, der inhaltlichen Bezüglichkeiten, – es ist auch ein lebendiges Wechselspiel technischer und formal gestalterischer Mittel, die wir in diesen Bildern erleben können. Bei Norbert Schmidt–Mispagel lässt sich eine bemerkenswerte Universalität in der Handhabung der künstlerischen Techniken feststellen und das, obwohl er als Autodidakt sich selbst diese Fähigkeiten erarbeitet hat. Schon bei den experimentellen Arbeitsweisen, anfangs eingesetzt, um die Verwitterungen der Wände im Bild wieder erzeugen zu können, zeigt er eine meisterhafte Beherrschung der Technik. Im Zuge der Weiterentwicklung seiner komplexen Bildgeschichten brilliert er mit einer variantenreichen Bildgestaltung, mit sensibel herausgearbeiteten Struktur– und Farbkombinationen – nie ohne dabei seine Bezüglichkeiten auch formal zu unterstreichen.

Ob er Farbe aufspachtelt oder wieder abkratzt und Schichten durchschimmern lässt, Linien einritzt oder druckvoll aufsetzt, dann wieder mit porösem Kreidestrich kritzelt, ob er scharf konturierte Schablonen einsetzt oder mit weichen Übergängen arbeitet, die Linie als Binnenzeichnung der Strukturerzeugung unterordnet und sie dann wieder dynamisch schwingend durchs Bild führt, sie zwischen schablonenhaften, hart konturierten Bildformen Verbindungen herstellen lässt – alles ist in Bewegung und greift ineinander, reagiert. Dies unterstützt eben auch in formaler Hinsicht die Absicht, Beziehungen untereinander auf zunehmen und ouf zubauen. Verfolgt man die einzelnen Bildgeschichten, Zitate und Handlungsstränge, die Norbert Schmidt–Mispagel in seinen Bildern so kunstvoll miteinander und ineinander verwoben hat, so gewinnt man den Eindruck, dass auf diesen Wänden ein Kosmos menschlicher Tollheiten ausgebreitet wird, eine comédie humaine, wie sie Balzac als Sittenbild seiner Zeit geschaffen hat. Als Zeitbild – so muss man diese Wandmalereien ansehen – Norbert Schmidt–Mispagel findet dafür einen verblüffenden Vergleich, er nennt sie „eine nach auBen gekehrte Höhlenmalerei“ . im Weißen Saal des Künstlerhauses zeigen wir vom 15.9. – 16.10.11 Bilder des Götlinger Künstlers Norbert Schmidt–Mispagel unter dem Titel „GeSchichten“.